8. Mai 2022

Masken in Lateinamerika Anders

Masken des Widerstands, Rezension von Elisabeth Streit, Lateinamerika Anders 2/2022.

Von einem der auszog, die "Anderen" zu begreifen

   Als im Herbst 2021 eine fast 200-köpfige Delegation von Zapatist:innen ihre „Reise für das Leben“ zur friedlichen Rückeroberung Europas über Wien antraten, hätte niemand daran geglaubt, dass in Zeiten der Pandemie so etwas möglich sein kann. Der Autor, Philosoph und Aktivist Tom Waibel war maßgeblich für das Gelingen dieser Unmöglichkeit vor Ort mitverantwortlich. Mit seiner Dissertation, 2006 am Philosophischen Institut der Uni Wien vorgelegt, hatte er sich, einer anarchistischen Tradition folgend, zwischen alle wissenschaftlichen Stühle gesetzt.

   Jahre später, angeregt durch den Besuch der Delegation, mit einem aktualisierten und erweiterten Schlusskapitel versehen, legt er nun mit Masken des Widerstands. Spiritualität und Politik in Mesoamerika seine mehr als 500-seitige Arbeit vor. In vier Hauptkapitel unterteilt, zeigen bereits die Überschriften, dass Tom Waibel sich ausführlich mit dem Begriff und der Funktion der Maske auseinandergesetzt hat. Packend wie Krimilektüre vom Feinsten beschreibt er die komplexe und grausame Unterdrückungsgeschichte Mesoamerikas und die widerständigen Praxen der indigenen Bevölkerung. Hierzu dienten Maskierungen aller Art: sei es durch schweigende Subversion oder durch die Schimützen der Zapatist:innen, um sich den gängigen Vorstellungen und dem Blick „der Anderen“ zu widersetzen und zu entziehen.
   Als die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) im Januar 1994 aus dem Regenwald der Selva Lacandona hervortrat und der mexikanischen Regierung den bewaffneten Kampf erklärte, richtete sich der Fokus der Weltöffentlichkeit augenblicklich auf diesen außergewöhnlichen Aufstand. Die widerständigen Praxen haben ihre Wurzeln in der Kultur und Lebensweise der mesoamerikanischen Bevölkerungen, vor allem der Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Ch’ol. Ihre überlieferte Kosmologie und spirituelle Verbindung zur Natur, aber auch ihre lange Geschichte des Widerstands waren seit Jahrhunderten und trotz aller Grausam- keiten wirkmächtige Instrumentarien gegen die Eroberer.
   Der Nachhall von Schock und Grauen schreibt sich allerdings ins Körpergedächtnis ein: „Nun stellte er mir seine Kinder vor und ich begrüßte eins nach dem anderen. Als aber die Reihe an die Jüngste kam, brach das kleine Mädchen in ein herzzerreißendes Heulen und Wehklagen aus. Ihr Schreien wurde umso lauter, je mehr ich mich bemühte, sie zu beruhigen. Es fiel mir nicht leicht, ihren Schrecken und meine Anwesenheit zusammen zu denken. [...] Auf mein Fragen hin erklärte mir mein Retter, dass das Mädchen Angst davor hatte, mitgenommen und verspeist zu werden. ‚Man sagt, die Wei- ßen stehlen kleine Kinder und fressen sie auf.‘“ Selten war man sich selbst so fremd und vertraut zugleich wie bei der Lektüre von Masken des Widerstands.